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Torsten Pötzsch // Weißwasser

Interview: Oberbürgermeister Torsten Pötzsch, Stadtverwaltung Weißwasser /// https://www.weisswasser.de

Autorin: Juliane


Werte: Vertrauen, Leidenschaft, Respekt


Reno und ich haben heute einen Termin bei dem Oberbürgermeister Torsten Pötzsch in Weißwasser. Wir sind gespannt darauf mit ihm zu sprechen, da er bei uns den Ruf eines aufgeschlossenen und unkonventionellen Bürgermeisters genießt. Auch wurde er in diesem Jahr mit dem Deutschen Nationalpreis geehrt und damit für sein Engagement gegen Hass und die Spaltung der Gesellschaft. In Weißwasser war ich selbst zum letzten Mal als Kind. Auf der Fahrt fühle ich mich ganz behaglich. Mit den vielen in den Himmel ragenden Kiefern verbinde ich ein gutes Gefühl. 

Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus angekommen, erblicken wir einen Findling. Ein gigantischer Stein, die der hiesige Tagebau ans Tageslicht befördert hat. Auf Weißwasser warten große Herausforderungen, blickt man auf 2038 und dem damit einhergehenden Strukturwandel. Durch den wirtschaftlichen Einbruch der 1990er Jahre ist die damalige Bevölkerungszahl von über 38.000 auf heute unter 16.000 geschrumpft. 

In der Weißwasseraner Stadtverwaltung arbeiten zwischen 60-70 Mitarbeiter:innen. Außerdem gibt es noch Außenstellen wie den Wirtschaftshof, eigene Kitas, eine Bibliothek und ein Glasmuseum. Insgesamt betrachtet sind es gut 180 Mitarbeiter:innen. 





Vieles läuft über regelmäßige Beratungen. Die Server, die Datenleitungen und die Technik selbst sind überlastet. Oberbürgermeister Pötzsch nutzt sogar seinen privaten Rechner, um Grafiken oder Präsentationen zu erstellen. An das Thema Cloud ist noch nicht zu denken, wegen der Kosten, der Wartung und den technischen Voraussetzungen.


Mangelnde Digitalisierung ist ein ein wesentliches Problem.

Er wünscht sich dahingehend massive Änderungen, ist aber durch Haushaltsbeschränkungen zu Sparsamkeit gezwungen. Er nutzt zum Beispiel auch sein privates Handy im Job. Ein Diensthandy gibt es nicht. Dabei gibt es viel zu klären, viel zu arbeiten, viel abzustimmen: „Der Strukturwandel findet im Norden der Landkreise Görlitz und Bautzen statt. Dort werden die Jobs wegfallen. Dort muss Geld hin.“



Innerhalb der Verwaltung funktioniert das Arbeiten nach Gesetzen, Vorschriften und Anweisungen. Seine Mitarbeiter:innen suchen die Absicherung. Dabei möchte er nicht, dass seine Mitarbeiter:innen einfach nur Vorschriften starr abarbeiten, sondern korrekt aber flexibel agieren. Flexibilität und Verwaltung scheinen nicht zusammen zu passen. Dabei schließt das eine das andere gar nicht aus.

Es ist eher die Einstellung, die entscheidet, wie offen, transparent und bürgerfreundlich Verwaltung in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.

Die Chance ist jetzt da, neue Wege zu gehen. Der Weißwasseraner Oberbürgermeister wünscht sich, dass Mitarbeiter:innen eigenständiger und im jeweiligen Team Entscheidungen treffen.     

Die Stadtverwaltung befindet sich gerade in einer Phase, wo klar ist, dass in den nächsten fünf Jahren 60-70 % der Mitarbeiter:innen in Rente gehen. Er wünscht sich auch Quereinsteiger:innen, die Berufserfahrungen in der freien Wirtschaft haben und dadurch gelernt haben, flexibel zu agieren. Eine Kombination von Verwaltungswissen und Arbeitsweisen der Wirtschaft sei effektiv. Er wünscht sich für die Zukunft ein Team aus Jung und Alt mit Mitarbeiter:innen, die ähnliche Einstellungen haben und Verantwortung übernehmen wollen.

Oberbürgermeister Pötzsch begrüßt home office. Er möchte, dass seine Mitarbeiter:innen Privat- und Berufsleben gut miteinander vereinbaren können. Durch die Corona-Pandemie hat er die Arbeitszeit für seine Mitarbeiter:innen von 6-22 Uhr erweitert, flexibel und nach den jeweiligen Bedürfnissen. Die Arbeit wird ja trotzdem gemacht. Neue Wege gehen - das gilt nicht nur für die Arbeitszeitregelung, sondern ist seine generelle Einstellung. Er sieht sich nicht unbedingt als klassischen Bürgermeister, er möchte vielmehr Vorbild dafür sein, etwas auch anders lösen zu können, als auf festen Pfaden. 

Immer wieder zu motivieren ist wichtig. Dadurch, dass immer mehr Arbeit hinzukommt, immer mehr Kollegen:innen ausfallen, Gelder und Stunden reduziert werden und mehr Leistung zu wenig belohnt werden kann, wissen seine Mitarbeiter:innen oft nicht mehr, was sie zuerst machen sollen. Es werden immer weiter Stellen abgebaut. Das fordern Stadträte, da die Bevölkerungszahl noch weiter schrumpft. „Dadurch das die Aufgabenfülle größer wird, funktioniert es nicht. Außerdem haben wir extrem viele Dauerkranke, teilweise über Jahre“, erzählt er uns.

Seine eigene Familie ist eine Riesenmotivation. Schaut er auf seine kleinen Kinder, weiß er, für wen er das macht und wofür er mit voller Kraft durch schwierige Zeiten geht. Auf der anderen Seite will er auch einen Fußabdruck hinterlassen für die Stadt, für die Region und zum Wohle der Menschen.

International ist Weißwasser gefragt. Erste kürzlich waren Regierungsbeamte aus Südkorea da und im vorletzten Jahr Student:innen und Professor:innen aus New York und Japan. Sie sind interessiert am Strukturwandel nach 1990 und beeindruckt, was in einer kleinen Stadt wie Weißwasser alles geschehen ist. ´Wie macht ihr das mit der Abwanderung?´ werde ich von unseren Gästen gefragt. In Japan gibt es Kohleregionen mit Städten, die sogar auf 20% geschrumpft sind.





„Ich will irgendwann die Geschichte erzählen können, dass wir nochmal einen Strukturbruch erlebt haben, aber diesmal viele Sachen richtig gemacht haben.“

Oberbürgermeister Pötzsch ist überall präsent und ganz da als Bürgermeister. Große Teile seiner Privatzeit investiert er für seine Stadt und seine Region. Weißwasser war 1935 weltweit größtes Glaszentrum. „Diese Tradition müssen wir mit nutzen“, erklärt er. Seine Eltern arbeiteten beide in der Glasindustrie, 1990 waren beide Anfang 40. Sie haben nie wieder in der Glasindustrie gearbeitet. Seine Schwester ist weg gegangen. Hierbleiben können, das möchte Oberbürgermeister Pötzsch für die Menschen seiner Region erreichen.


„Der Strukturwandel bietet uns als Gesellschaft auch Chancen neue Wege zu gehen.“

Neue Wege gehen, das ist auch unser Anliegen. Wir verabschieden uns von Torsten Pötzsch, der zu seinem nächsten Termin eilt. Wer also in den nächsten Jahren vorhat nach Weißwasser zu ziehen, dem sei gesagt, in der Stadtverwaltung sind tatkräftige Quereinsteiger erwünscht.

Auf unserem Rückweg halten Reno und ich noch am Aussichtsturm „Am Schweren Berg“, südlich von Weißwasser. Es ist das zweite Mal im Leben, dass ich auf einen Tagebau hinunterschaue. Mir bleibt beim Anblick wiederholt der Mund offen stehen. Die Landschaft vor mir erstreckt sich unglaublich weit und unglaublich surreal.

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